#INKTOBER2018 14: clock (Uhr): Aschenputtel und der Rabe

 

Es war ihr einziger Zufluchtsort – das Grab ihrer Mutter. Wenn Rosalias Peinigerin ihr auch sonst alles genommen hatte – diesen Platz konnte sich das Mädchen bewahren.

 

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie hier wochenlang gelegen und geweint, bis wie durch ein Wunder eines Nachts aus ihren Tränen ein buntes Blumenmeer gewachsen war. Neben dem Grab schoss eine junge Birke in die Höhe und spendete ihr fortan Schutz vor Sonne, Regen und Wind. Ein riesiger Rabe kam vom Himmel geflogen, eine rote Rose im Schnabel. Er setzte sich zu ihr und blickte Rosalia warm an. Der schwere Druck um das Herz des Mädchens löste sich ein wenig. Sie nahm die Rose und fand sogar ein kleines Lächeln. Sie ging heim, stellte die Rose in eine Vase und suchte ihren Vater.

 

Dieser jedoch hatte vor lauter Kummer seine Tochter vergessen, saß reglos im Garten und starrte ins Leere. Die Haushälterin scharwenzelte um den Trauernden herum und hatte das Regime in der riesigen Villa vollkommen übernommen. Anfangs behandelte sie Rosalia noch zuckersüß, tröstete sie und ließ sie zusammen mit ihren eigenen Töchtern spielen. Doch nach Jahresfrist hatte sie ihr eigentliches Ziel erreicht. Der wohlhabende Kaufmann ehelichte sie und nahm ihre Töchter an seiner statt an.

 

Es hätte nun alles gut werden können. Doch mit diesem Tag legte sich ein dunkler Schatten auf Rosalias Leben. Ihre neue Stiefmutter schien sich an dem Mädchen für alle Bitternis, die ihr selbst im Leben widerfahren war, zu rächen, demütigte und schlug sie und ließ das Kind von nun an die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten im Hause tun. Und weil sie davon immer so verstaubt und schmuddelig aussah, nannten sie alle bald nur noch das Aschenputtel.

 

Ihr eigener Vater war blind dafür, was seiner Tochter geschah. Als sie wagte, ihn um Hilfe zu bitten, glaubte er ihr nicht. Sie solle zu ihrer neuen Mutter brav, gehorsam und respektvoll sein, wie er sie das immer gelehrt habe, anstatt sich wie eine undankbare Furie zu gebärden.

 

Rosalia hatte nicht die Kraft, sich zur Wehr zu setzen. Beratungsstellen für Gewaltopfer, so wie wir sie heute kennen, gab es damals im Märchenland noch nicht. Rosalia fügte sich also in ihr Schicksal und blieb im elterlichen Haus. Doch jeden Abend schlich sie sich für eine Stunde zum Grab der Mutter, lauschte den Vögelchen und plauderte mit dem klugen Raben, der jedes ihrer Worte zu verstehen schien. Dann ging sie heim in ihre enge dunkle Kammer und träumte von dem schönen Märchenprinzen auf dem weißen Ross, der sich in sie verlieben und sie von ihrem Leid erlösten würde.

 

 

 

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Autor: Ines Udelnow

Portraitzeichnungen, Zeichnungen aus der Natur und Naturfotografie

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