Alltag (2) – nicht ganz zum Ursprung

 

Die letzten vier Wochen habe ich immer wieder über das Thema Alltag nachgedacht – Gedanken, die Ulli Gau mit ihrer Projektidee bei vielen Blogger*innen angestoßen hat.

Das immer Wiederkehrende – wie zeigt es sich bei mir?

 

Heute aber schreibe ich über längst Vergangenes. Nein, der unten beschriebene Kinderalltag ist nur ein Aspekt, ein kleiner Baustein und auch nicht das erste aus einer  ganzen Reihe von Puzzleteilen, die alle zusammengenommen etwas für mich noch nicht ganz Geklärtes ergeben, das meinen gegenwärtigen Alltag prägt.

Bis ich selbst Mutter wurde, hatte ich das folgende vergessen – glaube ich jedenfalls. Als wir dann für den Nachwuchs einen Betreuungsplatz suchten war ich sehr froh, dass es heutzutage in Berlin diesbezüglich sehr viel freier als in meiner Kindheit zugeht: wir stießen auf keine Kita, in der Kinder heute noch mit Gewalt zum Schlafen gezwungen werden. Um so erstaunter war ich, als ich im Blog neuinfrankreich las, dass zumindest in jener Ecole, die die Tochter der Autorin besucht, Mittagsschlaf für alle Kinder – ob sie nun Einschlafen können oder nicht – unumstößliche Pflicht ist.

 

Wer wie ich einen DDR-Kindergarten und Schulhort besucht hat, wird sich vielleicht daran erinnern, dass auch damals der Mittagsschlaf obligatorisch war. In meinem Fall bis zum Ende der zweiten Klasse. Wer sich ausgedacht hat, dass man Kinder grundsätzlich zum Einschlafen zwingen kann, weiß ich nicht. Das war vermutlich so ein Aufknopfdruckschläfer. Es gibt ja diese gesegneten Menschen, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinlegen, die Augen schließen und  seelig schlafen können. Ich bin da wohl nur eine von ganz vielen, denen es da ganz anders geht – egal wie müde ich eigentlich bin.

Ich glaube, ich konnte mittags nicht mehr Einschlafen, seit ich drei war. Erzwingen kann man nichts und an den Wochenenden verlangten meine Eltern nur, dass ich mich ruhig hinlege. Das war sterbenslangweilig, aber nicht dramatisch und danach war meine Kinderwelt wieder in Ordnung.

 

Im Kindergarten aber erwarteten die Erzieherinnen, dass wir Kinder nicht nur bewegungslos liegen, still sein und die Augen schließen sollten, sondern eben auch wirklich schlafen. Wie das gehen soll, weiß ich bis heute nicht, aber da es nun einmal verlangt wurde, hielt ich die Forderung für angemessen und richtig und gab ich eben als braves Kind einfach vor zu schlafen. Für meine eigentliche Gruppenerzieherin schien das in Ordnung, aber als einmal der Drache der Nachbargruppe auf uns aufpasste und bemerkte, dass ich nicht schlief (bis heute weiß ich nicht, wie sie das gemerkt hat, ich war wirklich still), raste sie auf mich zu, drehte mich im Bett herum und brüllte, dass ich gefälligst zu schlafen hätte.

Tja, nun reagieren Menschen auf derartige Angriffe verschieden. Ich ging in den inneren Widerstand und übte wahrscheinlich damals schon, Aggression gegen mich statt gegen andere zu richten.

Ich verstehe – und verstehe auch wiederum nicht -, warum ich mich damals nicht gewehrt oder gerechtfertigt oder gar beschwert habe. Hier ist jetzt nicht die Stelle, Licht auf diese Fragen zu werden. Statt wütend zu werden wegen der Gemeinheit der Erzieherin, bekam ich ein rabenschwarzes Gewissen – ich war nicht lieb gewesen und hatte  etwas Verbotenes gemacht! Doch trotz aller krampfhaften Versuche, schaffte ich es auch die kommenden Jahre niemals einzuschlafen. Natürlich (natürlich? – nein „natürlich“ ist das nicht, aber es passt zu mir) sprach ich niemals mit anderen Kindern darüber:  ‚hej, kannst du auch nicht schlafen?, ist ja doof. Wie gehst du damit um?‘ Wahrscheinlich ging es vielen Kindern ganz genau so wie mir. Aber auf diese Idee kam ich gar nicht: ich hielt mich für die einzige verdammenswerte Regelbrecherin. Sprach ich damals mit meinen Eltern darüber? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht.

Was ich weiß: ich fühlte mich gemein und schlecht in mehrfachem Sinne. Jahrelang. Tag für Tag. Ich schlief nicht – machte also etwas Böses: ich log, weil ich eine erfolgreiche Strategie gefunden hatte, mich auch die folgenden Jahre schlafend zu stellen; ich war eine Hochstaplerin – wurde ungerechtfertigterweise belohnt, wenn nämlich die Erzieherin allen schlafenden Kindern eine Süßigkeit unters Kopfkissen legte – auch mir!

 

Für Ullis Alltagsthema habe ich diese Lügenstunden mal hochgrechnet. Wenn ich davon ausgehe, dass ich die letzten drei Kindergartenjahre nicht schlafen konnte und dann die ersten beiden Schuljahre hinzurechne, so sind das insgesamt fünf Jahre. Im Schnitt war ich vielleicht pro Jahr vierzig Wochen in Kindergarten und Schule. Eine Woche hatte fünf Schlafenmüssentage. Summa summarum ergibt das achthundert Tage erzwungenen Mittagsschlafes je ein oder gar zwei Stunden. Das sind dann doch beachtliche Dimensionen meiner alltäglichen Lüge und auch meiner Angst vor Entdeckung. Jeden Tag erneut.

 

Warum habe ich das hier und heute aufgeschrieben? Nein, ich will kein Bedauern, kein Mitleid, kein symbolisches Überdenkopfstreichen und Achduarmearme! Jede und jeder von uns hat Schmerzvolles, Einschneidendes erlebt. Für nicht wenige bedeutet die Kindheit weitaus traumatischere Erlebnisse. Schlimmer noch: auch die Gegenwart von Millionen von Kindern ist von Entbehrungen, Gewalt, Flucht und Tod geprägt.

Aber ich bin nun einmal Historikerin und als solche empfinde ich den Blick auch in meine eigene Vergangenheit als unabdingbar. Nicht, um im Selbstmitleid zu versinken – obwohl das für Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse gern hintenan stellen, auch ein wichtiger heilsamer Schritt ist. Aber wir erkennen im Vergangenen auch vieles für unser Hier und Jetzt: Mechanismen und Handlungsmuster. Damit wir sie verstehen, erklären und in Zukunft verändern können. Schritt für Schritt. Langsam, aber stetig.

 

 

 

Autor: Ines Udelnow

Portraitzeichnungen, Zeichnungen aus der Natur und Naturfotografie

21 thoughts

  1. Pingback: Alltag 3 |
  2. Schwarze Pädagogik! Und wir tragen sie ein ganzes Leben mit uns herum, bis wir uns bewusst werden, woher unsere „Ersatzgefühle“ kommen. Warum wir denken, wir sind schlechte Menschen. Dein Beispiel macht das so deutlich und dafür danke ich Dir! Regine

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    1. Liebe Regine, ich danke Dir für Deinen Kommentar.

      Ja, manches vergessen wir über die Jahre oder halten es nicht für so wichtig und ich tue mich auch heute noch schwer damit anzuerkennen, dass dieses oder jenes einen maßgeblichen Einfluss auf mein heutiges Selbst hatte. Andere mussten da auch durch und stehen heute fest im Leben, halte ich mir immer wieder vor und schimpfe mich Memme und Mimose (aber wer weiß, wie andere Rucksäcke so aussehen und wie die Träger*innen damit zurechtkommen).

      Oder noch schllimmer: ich werfe mir vor, selbst schuld zu sein: hättest dich ja wehren können und beschweren, warum hast du braves Mäuschen gespielt.

      Dabei ist das ja nur ein kleines Puzzleteilchen, was nur zusammen mit den anderen ein Bild ergibt.

      Ich frage mich trotzdem immer wieder: und, was mache ich jetzt mit dieser Erkenntnis? Geht es mir davon besser? Nein, noch nicht.

      Dabei sind das nur ganz winzige Bausteine, die dies und das im heute erklären können und warum welche Gefühle dominieren (oder eben fehlen), was nur ganz langsam und in Minischritten die Möglichkeit zu einer Veränderung im Inneren eröffnet. Und damit die Chance, die Gegenwart und Zukunft zu gestalten.

      Ich grüße Dich ganz herzlich
      Agnes

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    1. Lieben Dank für Deinen Kommentar.

      Es ist ganz richtig, dass man auch an das heute und hier und jetzt zu denken.

      Aber genau so wichtig ist es manchmal, erst einmal zu ergründen, warum gewisse Probleme bis heute bestehen. An das hier und jetzt zu denken hilft eben dann nicht, wenn der Körper gewisse Dinge „eingespeichert“ hat und trotz aller guten Vorsätze eben von sich aus immer wieder die Handbremse zieht, indem er sich weigert wie benötigt und gewünscht zu funktionieren. Wenn der Körper keine Kraft mehr zu haben behauptet und ein Aufstehen nicht mehr möglich ist oder die Wahrnehmung vor Schmerzen vollkommen getrübt ist, ist eben auch die Entdeckung des Schönen im Heute schlicht nicht möglich (gut, vielleicht für manche, die ich dafür bewundere, aber diese Stärke habe ich trotz meines Ehrgeizes leider nicht – das macht mir dann wieder das Gefühl eine Versagerin zu sein – doch davon geht es mir auch nicht besser und so beißt sich die Katze in den Schwanz…).

      Ich bin inzwischen der Überzeugung dass es nicht den „einen“ „besten“ therapeutischen Weg gibt, sondern dass unterschiedliche Menschen verschiedene Ansätze brauchen. Ich habe ja nun therapeutisch schon einiges versucht und bin vom Wesen her noch immer eine Marathonläuferin, die die Zähne zusammenbeißt, auch wenn sich die letzten zehn Kilometer schrecklich anfühlen. Trotz allem habe ich für mich das Gefühl, dass ich jetzt auch und sehr genau nach hinten schauen und meinen Frieden mit mir machen muss, bevor es dann wieder nach vor gehen kann. Das heißt nicht, dass ich mich nicht auch in Achtsamkeit übe und das Hier und Jetzt schätzen lerne.

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    1. Ja :-)
      … wobei ich nicht in meiner Profession arbeite und die Zeit an der Uni schon so lange her ist, dass ich den wissenschaftlichen Anschluss verloren habe. Aber das Interesse besteht nach wie vor und so ein Studium ist ja auch über das pure Faktenwisen hinaus prägend …

      Liebe Grüße
      Agnes

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  3. Liebe Agnes. Ich zähle mich auch zu den von Dir beschriebenen Schlechtschläfern, hab das wohl auch an eines meiner Kinder weitergegeben.
    Im Gegensatz zu Dir hab ich wohl als DDR-Kind unbewusst eine andere Strategie gewählt bzw. bin ich zum Glück nie auf einen derartigen Drachen gestoßen. Ich musste mit meinem Bettchen zur Mittagszeit regelmäßig in die Waschräume (was wohl auch nicht die ideale Lösung ist), weil ich die Kinder links und rechts neben mir durch ständiges Anschubsen am Einschlafen hinderte. Ich kam jedes Mal voller Stolz nach Hause und berichtete, dass ich wieder ausquartiert wurde. Ironie des Schicksals: mein Sohn war ebenso stolz darauf, seinen Mittagsschlaf im Bällebad verbracht zu haben…
    Insgesamt macht aber jedes dieser Erlebnisse etwas mit uns.
    Kindheitsalltag passt gut zu Ullis Projekt. Danke für’s Teilen.

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    1. Dir, liebe Birgit, lieben Dank für Deinen Kommentar. Ja, das ist eine andere Strategie, die Du hattest, und natürlich hat sie Dich geprägt. Mein Kinder-Ich wirft Dir bewundernde Blicke für Deinen Mumm zu, Dich dem Schlafenmüssen widersetzt zu haben und so eigensinnig Widerstand geleistet zu haben. Selbst hätte ich mich das nicht getraut, niemals und nimmer. Aber es geht ja nicht darum, sich und sein Handeln damals zu beurteilen und zu bewerten, sondern zu gucken, was wir für die Jetzt-Zeit mitnehmen können.
      Sei herzlich gegrüßt
      Agnes

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      1. Du hast völlig Recht… die Frage ist immer, was machen wir jetzt mit und aus unseren Erlebnissen. So mutig wie damals bin ich heute im Alltag nicht immer. Vielleicht bist Du mir damit jetzt manchmal voraus… ich würde mich z.B. niemals trauen, eine Geschichte öffentlich vorzustellen! Du schon. 👍 Liebe Grüße!

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  4. Liebe Agnes, hiermit öffnest du ein neues Fenster der Alltage, nämlich das der Kindheit, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht! Umso spannender finde ich deinen Kinderalltag. Ja, auch traurig, aber noch mehr wütend stimmt er mich, auf eben die Drachenerzieherin und all denen, die Kinder dazu bringen sich schlecht bis sündig zu fühlen. Das hast du sehr eindrücklich be- und geschrieben. Und ich stimme dir voll und ganz zu, viele würden in ihren Kinderalltagen ähnliches finden und manche noch ganz viel Schlimmeres, manches können wir heilen, anderes ist so traumatisch, dass Heilung kaum möglich ist, was ich ganz besonders schlimm finde.
    Ich danke dir von Herzen für deinen Beitrag zum Alltag-Projekt, nun ist es wieder um eine Facette reicher.
    Herzliche Grüße, Ulli

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    1. Liebe Ulli, ich danke Dir für Deinen herzlichen Kommentar und freue mich, dass Du ihn trotz des Themas als bereichernd für Dein Alltags-Projekt empfindest. Ja, es macht auch mich traurig-wütend, wie alltäglich Gewalt gegen Kinder heute noch ist.
      Herzliche Grüße
      Agnes

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      1. Gewalt hat leider sehr viele Gesichter, gerade die subtile Gewalt ist für Kinder sehr schwer einzuordnen, die grobe, für jeden sichtbare Gewalt zer- und verstört nochmal anders.
        Gerade notiere ich mir Stichpunkte, da ich mir überlegt habe am Ende des Projekts eine Art Zusammenfassung zu schreiben. Ich muss damit schon jetzt beginnen, sonst ist es nach zwölf Monaten eine Mammutaufgabe, die kaum zu stemmen sein wird. Den Kinderalltag hat auch dergl benannt, den Link findest du unter meinem 2. Alltagsbilderreigen, ihrer spricht von der wirklich brutalen Seite, zum heulen!

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      2. Ja, rechtzeitige Notizen sind bestimmt sehr hilfreich, vor allen weil sich so wundervoll viele Menschen an dem Projekt beteiligen und somit etliche Facetten aufmachen.
        Danke für den Heinweis. Ich habe vergangene Woche einen bewegenden Bericht bei dergl zum Thema Gewalt gegen Kinder gelesen und schaue mir gerne den verlinkten Beitrag an.

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