Ferienzwischenruf (2). Brief aus dem Gefängnis

Ich befinde mich in einer scheinbar anderen Welt; gefühlt meilenweit von meinem üblichen Alltag entfernt, wenn auch eigentlich Luftlinie nur 50 Kilometer von Berlin entfernt. Ich hüte das Haus meines Bruders und seinen sehr liebenswerten Hund, genieße Vogelzwitschern und Stille, Luft und Licht und die Sonne, fahre Fahrrad, bade oder spaziere. Ich zeichne selten, sauge dafür aber Landschaften und Naturbeobachtungen ein, von denen ich lange noch zehren werde. Nachrichten höre oder lese ich nur selten und das ist wohl auch nicht schlimm, denn sowohl die guten wie auch die schlechten Dinge passieren, ob ich nun medial live dabei bin oder nicht.

Die Zeit bleibt natürlich dennoch nicht stehen. Mehr als fünf Monate seit dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine sind vergangen, zahllose Menschen sind umgekommen, geflohen und noch immer auf der Flucht. In Russland treibt die Propaganda hanebüchene Blüten, die skurril und urkomisch wären, wäre sie nicht so menschenverachtend und gefährlich. Die Daumenschrauben gegen jene, die offen eine Meinung vertreten, die der offiziellen Position widerspricht, sind enorm angezogen worden.

Von dem russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin (https://de.wikipedia.org/wiki/Ilja_Walerjewitsch_Jaschin), der trotz allem in Russland geblieben war und dort weiterhin laut vernehmlich, offen und angstfrei seine Meinung äußerte und den Krieg gegen die Ukraine als das Verbrechen bezeichnete, das er ist, haben einige hierzulande vielleicht gelesen oder gehört. Er hat einen eigenen YouTube-Kanal (in Russland noch immer für alle frei zugänglich) mit hoher Zuschauerquote und veröffentlicht Beiträge unter anderem über Telegram, das in Russland nicht blockiert werden kann und bei der russischen Opposition und unabhängigen Journalisten eine verbreitete Nachrichtenplattform ist (aber natürlich auch vom russischen Staat als Kanal zur Verbreitung seiner gefährlichen Lügenmärchen genutzt wird). Manche haben auch hierzulande davon gehört, dass er inzwischen, wie viele andere auch, wegen angeblicher „Falschinformationen über die Streitkräfte“ in Untersuchungshaft sitzt. Doch auch im Gefängnis ist er nicht verstummt. Über seinen Telegramkanal und andere Quellen lässt er regelmäßig von sich hören. Den Gefängnisbrief, den er dort gestern, am 26. Juli 2022, veröffentlicht hat, habe ich heute Vormittag ins Deutsche übersetzt. Unten stehend sowohl das russische Original als auch die Übersetzung.

Каждое утро в моей камере ИВС включается „Радио России“. В 6 утра звучит гимн, а потом начинается промывка мозгов.

Jeden Morgen wird in meiner Zelle des Untersuchungsgefängnisses das „Radio Russlands“ eingeschaltet. Um sechs Uhr ertönt die Hymne und danach beginnt die Gehirnwäsche.

Новости мало отличаются друг от друга. Российские войска нанесли очередной „удар ювелирной точности“ по расположениям ВСУ; уничтожено более трёхсот националистов и около ста единиц боевой техники. Украинские каратели ответили новым обстрелом жилых кварталов ДНР из американского (акцент на американском) вооружения; ракета попала в детский сад, чудом удалось избежать жертв.

Die Nachrichten unterscheiden sich kaum voneinander. Die russische Armee hat einen weiteren „Schlag mit der Präzision eines Juweliers“ gegen die ukrainischen Streitkräfte ausgeführt; es wurden mehr als dreihundert Nationalisten und etwa einhundert Gegenstände militärischer Ausrüstung vernichtet. Angehörige eines ukrainischen Strafkommandos haben aus amerikanischen Waffen (Betonung liegt auf amerikanisch) erneut Wohnviertel in der DNR* beschossen. Eine Rakete traf einen Kindergarten, nur durch ein Wunder gab es keine Opfer.

Доне́цкая Наро́дная Респу́блика – Volksrepublik Donezk, A.d.Ü.)

Потом эфир заполняется аудиописьмами в редакцию: „Мария из Саратова“ или „Елена Николаевна из Кирова“ зачитывают стихи собственного сочинения, посвящённые нашим героям, которые, воюя на Украине, поставили себя в один ряд с „ветеранами Великой Победы“. И на десерт „песни русской весны“ — ансамбли художественной самодеятельности гнусаво поют про возвращение Мариуполя в родную гавань или о преступлениях майдана.

Weiter im Programm geht es mit Audiobriefen an die Redaktion. „Maria aus Saratow“ oder „Elena Nikolaewna aus Kirow“ lesen selbstverfasste Gedichte vor, die unseren Helden gewidmet sind, die in der Ukraine kämpfen und damit in einer Reihe mit den „Veteranen des Großen Sieges“** stehen. Zum Dessert kommen dann „Lieder des russischen Frühlings“ – Amateurensembles singen näselnd über die Rückkehr Mariupols in den Hafen der Heimat oder die Verbrechen des Maidans.

** gemeint ist der Zweite Weltkrieg, a.d.Ü.

И так по кругу. Каждый божий день. Иногда чувствую себя персонажем фильма „Заводной апельсин“, которого усадили в кресло перед экраном и скрепами зафиксировали широко открытые глаза. Мне кажется, ООН должен признать вынуженное прослушивание таких вот эфиров формой пыток.

Und so geht das in einem fort. Jeden verdammten Tag. Manchmal fühle ich mich, als ob ich eine Figur in dem Film „Clockwork Orange“ wäre, die man in einem Sessel vor einer Leinwand mit durch Klammern fixierten weit geöffneten Augen platziert hätte. Ich finde, dass die UNO das erzwungene Hören solcher Radioformate als Form der Folter anerkennen sollte.

Но если всерьёз — по моим наблюдениям, всё меньше людей воспринимает на веру такую промывку мозгов. Удивительно, но несмотря на агрессивную пропаганду войны, я вообще не сталкиваюсь с проявлениями ненависти по эту сторону решётки. Даже наоборот. То конвойный, защёлкивая наручники, шепнёт: „Илья, держись“. То дежурная в ИВС даст лишнее одеяло, „чтобы хоть спалось помягче“. То пристав в суде поблагодарит за ролик про Кадырова. Такие моменты укрепляют ощущение моральной правоты.

Aber mal im Ernst – nach meiner Beobachtung fallen immer weniger Menschen auf diese Gehirnwäsche herein. Es ist erstaunlich, aber ungeachtet der aggressiven Kriegspropaganda wird mir auf dieser Seite der Gitterstäbe nicht mit Hass begegnet. Sogar im Gegenteil. Sei es der Begleitbeamte, der mir, während mir die Handschellen anlegt, zuflüstert: „Ilja, bleib standhaft!“ Oder die Diensthabende im Untersuchungsgefängnis, die mir eine zusätzliche Bettdecke gibt, „damit Sie wenigstens weicher schlafen können“. Oder der Gerichtsdiener, der mir für mein Video zu Kadyrow*** dankt. Solche Momente bekräftigen das Gefühl der moralischen Richtigkeit.

*** Kadyrow – Präsident der russischen Teilrepublik Tschetschenien, A.d.Ü.

Даже сейчас, сидя в камере перед угрозой 10-летнего заключения, я понимаю: решение остаться в России было правильным. Очень сложным — но правильным. Потому что оно выбивает у Путина главный козырь про иностранную ориентированность оппозиции и про то, что мы все сбежим при первой же опасности. И вот люди видят: мы никуда не бежим, мы стоим на своём и разделяем судьбу своей страны. Это делает наши слова весомее, а аргументы крепче. Но главное — оставляет нам шанс вернуть себе свою родину.

Sogar jetzt, wo ich in der Zelle sitze und mir zehn Jahre Haft drohen, verstehe ich: die Entscheidung, in Russland zu bleiben, war richtig. Sehr schwierig, aber richtig. Weil es nämlich Putins Hauptargument widerlegt, die Opposition sei nach dem Ausland hin, orientiert und dass wir vor der ersten Gefahr davonlaufen. So aber sehen die Leute: wir fliehen nirgendwohin, stehen unseren Mann und teilen das Schicksal unseres Landes. Das macht unsere Worte gewichtiger und stärkt unsere Argumente. Aber das wichtigste – wir behalten die Chance, in unsere Heimat zurückzukehren.

Ведь побеждает не тот, кто сильнее прямо сейчас, а тот, кто готов идти до конца.

Denn es wird nicht derjenige siegen, der genau jetzt stärker ist, sondern wer bereit ist, bis zum Ende zu gehen.

.

Brief Ilja Jaschins aus der Untersuchungshaft, zitiert aus Jaschins Telegramkanal, dort veröffentlicht am 26. Juli 2022

Autor: Ines Udelnow

Portraitzeichnungen, Zeichnungen aus der Natur und Naturfotografie

5 thoughts

  1. Ja, es gibt doch noch MENSCHEN in Russland, zum Glück. Aber die Propaganda ist so absurd, dass man manchmal nicht weiß, wie auf den Mist reagieren, den die Patrioten behaupten. Gestern erst habe ich mich in solch eine „Diskussion“ verwickeln lassen. Übelste Beschimpfungen regneten auf mich herab. Und natürlich – ich sei eine Verräterin, die im faschistischen Deutschland Zuflucht gefunden hat und jetzt inmitten allerlei Perverser genauso pervers ist. Und natürlich – Ukraina habe es verdient und die Ukrainer seien sowieso Unmenschen, die ausgerottet werden müssen. Und Putin ist der Größte und der Klügste, der weiß, was er tut. In diesem Sinne. Dass so viele sterben und leiden, kümmert sie nicht. Nicht einmal, wenn es um Angehörige geht – so mein Eindruck. Man fühlt sich echt machtlos gegen diese abstoßende und dumme Aggressivität. Ich habe da wenig Hoffnung, dass man sie irgendwie austreiben kann.

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    1. Liebe Rosa,
      ja, es ist schockierend, welche schrecklichen Blüten diese Propaganda treibt und mit welcher Dreistigkeit Dinge erfunden und behauptet werden, die losgelöst von jeglicher Realität sind.
      Ich bin zum Glück persönlich nicht mit solchen Argumenten konfrontiert worden. Was mir durchaus begegnet, hierzulande, ist die Mär, dass eigentlich die Amerikaner daran schuld seien und dass diese Selenski quasi verbieten würden, mit Russland zu verhandeln und einen Waffenstillstand zu schließen. Dann fällt es mir auch schon schwer, die innere (und äußere) Ruhe zu bewahren.
      Herzliche Grüße
      Ines

      Gefällt 1 Person

  2. Ja, es gibt doch noch MENSCHEN in Russland, zum Glück. Aber die Propaganda ist so absurd, dass man manchmal nicht weiß, wie auf den Mist reagieren, den die Patrioten behaupten. Gestern erst habe ich mich in solch eine „Diskussion“ verwickeln lassen. Übelste Beschimpfungen regneten auf mich herab. Und natürlich – ich sei eine Verräterin, die im faschistischen Deutschland Zuflucht gefunden hat und jetzt inmitten allerlei Perverser genau so pervers ist. Und natürlich – Ukraina habe es verdient und die Ukrainer sind sowieso Unmenschen, die ausgerottet werden müssen. Und Putin ist der Größte und der Klügste, der weiß, was er tut. In diesem Sinne. Dass so viele sterben und leiden, kümmert sie nicht. Nicht mal, wenn es um Angehörige geht – so mein Eindruck. Man fühlt sich echt machtlos gegen diese abstoßende und dumme Aggressivität. Ich habe da auch wenig Hoffnung, dass man sie austreiben kann.

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