Im Offenen Atelier

 

Inzwischen habe ich einen Träger gefunden, der ein „Offenes Atelier“ im Rahmen der Ergotherapie anbietet – nur knapp fünfzehn Fahrradminuten von meinem Zuhause entfernt und ohne jegliche Krankenhaus- oder Gefängnisatmosphäre (siehe hier). Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheinen nach meinem erstem Eindruck wirklich mit dem Herzen bei der Arbeit zu sein und es gibt ausführliche Einzelgespräche, in denen für jedeN PatientIn das genau passende Therapieprogramm ausgewählt wird.

Für mich geht es ja weniger darum, dass ich Anleitung für eine „sinnvolle“ Beschäftigung brauche. Ich habe mich, glaube ich, (fast?) noch nie in meinem Leben gelangweilt und jetzt, zu Hause, zeichne, male, schreibe, fotografiere, spaziere und lese ich in genau dem begrenzten Umfang, den mir Körper und Seele gestatten. Mein persönliches Ziel ist es, mit Hilfe einer Beschäftigung die Gegenwart von und die Interaktion mit Menschen zu trainieren. So sehr ich es mir manchmal wünsche, mein Leben als Einsiedlerin gestalten zu können – das ist schon allein wegen meiner Familie nicht möglich und auch der eigenständige Broterwerb, den ich selbstredend wieder anstrebe, setzt voraus, dass ich mich unter Menschen aufhalten kann, ohne dass der damit verbundene außerordentliche Stress einen erneuten Krankheitsschub auslöst.

Ich habe bisher erst einige Male im Offenen Atelier gearbeitet – für mich ist es schon allein eine Herausforderung, mit den neuen Räumen und den verschiedenen MitarbeiterInnen halbwegs vertraut zu werden. Ich musste fragen, wo Leinwände sind, Pinsel, Farben, ob ich eine Staffelei haben kann, wo ich mich platzieren kann und vieles mehr.

Die Regel ist es aber, dass die PatientInnen hier an verschiedenen Gruppenangeboten teilnehmen, z.B.  Holzbearbeitung, Rahmenbau, Upcycling, Siebdruck; es gibt aber auch eine Theatergruppe, die mich ganz besonders reizt und sogar eine Redaktion, die eine eigene kleine Zeitung herausgibt. Da haben meine Ohren natürlich freudvoll geklingelt und ich muss mich mahnen, nicht gleich wieder alles zu überstürzen und zu viel auf einmal zu wollen, mich Schritt für Schritt an zusätzliche Belastung heranzutasten. Wie schnell ich stürzen und wieder „von vorn beginnen“ kann, habe ich in den letzten mehr als drei Jahren mehrfach erlebt.

Ich darf gerade eine riesige Leinwand bearbeiten und mich entsprechend austoben – meiner Schätzung nach ist sie etwa zweieinhalb mal ein Meter groß, aber ich habe sie nicht ausgemessen. Es stehen große Töpfe Gouache-Wasserfarben zur freien Verfügung. Zunächst war ich etwas unentschlossen ob der riesigen malerischen Möglichkeiten, die sich mir plötzlich darboten und fühlte mich sowieso in der fremden, einem Teil von mir gefährlich scheinenden Umgebung, gehemmt und gefesselt. Also überwand ich mich, die Mitarbeiterin noch nach einem Stück Kohle zu fragen, und schloss dann die Augen wie bei unserem Blindzeichenprojekt. Ich umriss mein Profil, wie ich es vor meinem inneren Auge sah und zog weitere Linien, die sich, nachdem ich wieder sah, zu einem fliegenden Drachen (symbolisch für einen Teil meiner Selbst) über Berglandschaft formte.

Das hier gezeigte Foto zeigt einen Teil des Bildes zu Beginn der letzten Therapiestunde. Weitere Fotos konnte ich nicht machen, weil mein Handy behauptete, keinen Speicherplatz mehr zu haben und ich lieber malen wollte als mich um das Telefon zu kümmern. Manche Kohlestriche seht hier noch durchschimmern. Die Farbe des Himmels hat sich inzwischen verändert und die Körperform des Drachens ebenfalls, was Ihr auf diesem Ausschnitt ohnehin nicht sehen könnt. Er ist inzwischen weniger behäbig, dafür beweglicher und schneller geworden.

Ich selbst bin sehr gespannt, morgen meine Leinwand wiederzusehen. Zu Hause habe ich die Bilder, an denen ich zeichne oder male, immer in Sichtweite und so ist es für mich ein merkwürdiges Gefühl, vom eigenen Bild für so viele Tage getrennt zu sein.

 

20170630_ErgoBG

Autor: Ines Udelnow

Portraitzeichnungen, Zeichnungen aus der Natur und Naturfotografie

17 thoughts

  1. Das hört sich alles so gut an, liebe Agnes! Ich freue mich für Dich. Es ist so schön, dass Du viel Zeit hast. Du kannst einiges ausprobieren, wenn Du möchtest. Und Deine neuen Blog-Farben spiegeln Deine Genesung, finde ich. Liebe Grüße! Regine

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  2. Ha, das klingt nach einem sehr brauchbaren Umfeld, um Hemmungen zu überwinden, ich würde mich da auch gern mal austoben. Blind zu beginnen, ist ein kluger Schritt. Denn die riesige weiße Leinwand braucht viel Mut. Die bewusste Gestaltungskraft zieht dann nach. (Wo ist der Feueratem des Drachens? Traut er sich nicht und hat deshalb das Maul zugenäht?)

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    1. Interessanterweise war es mir beim Zeichnen gar nicht in den Sinn gekommen, dass der Drache solche Fähigkeit haben könnte. Sein Maul jedoch ist zugenäht, er kann keine Worte formulieren, an Feuer ist wohl ebenso nicht zu denken. Es sei denn, den Drachen bzw. mich überkommt ein anderer Impuls.

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    1. Ich danke Dir.
      Ich probiere hier Gouachefarben zum ersten Mal aus und es ist etwas ungewohnt, dass sie nicht ganz deckend sind. Aber ansonsten lässt es sich mit ihnen sehr frei, zügig und spontan arbeiten – im Gegensatz zur Ölmalerei, wo es ja immer sehr lange dauert, bis die Farbe trocknet und die nächste Schicht aufgetragen werden kann.

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      1. Ich finde Gouache ideal, weil sie deckender ist als Aquarell und dennoch wasserlöslich. Mit Öl komme ich gar nicht klar, dazu bin ich zu ungeduldig. Viel Freude noch beim Malen!

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    1. Nein, sicherlich nicht. Interessanterweise wurde ich das eben im Atelier von einer Mitpatientin auch gefragt. Es ist eigentlich ein Mischwesen, aber was seine dicke Haut und die Fähigkeit zu fliegen betrifft, dem Drachen wohl ähnlicher als einem anderen Tier oder Fabelwesen, für das wir einen Namen haben.
      In jedem Fall fühle ich mich diesem Wesen sehr verbunden. Fast möchte ich sagen, es hat sich mir „gezeigt“ und auf die Leinwand gebracht, meine Hand geführt, auch wenn das natürlich rational gesehen nicht möglich ist.

      „Drache“ zu sagen ist der Versuch, einen Namen

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      1. Oh ja, dass sich Wesen aus mir über die Hand auf die Leinwand bringen das kenne ich gut und ich finde das ist ein sehr befriedigender Schöpfungsakt

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  3. superfarben! die größe kann einen schon ängstigen. ich mit meinen 20×20 paintings müsste mir da auch eine strategie zurechtlegen… blind und schauen, was rauskommt ist z.b. eine super idee. vielleicht versuch ich ja auch mal sowas. liebe grüße

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