Seelenlebenreden

zyklopin

Psychische Erkrankungen sind auch heute noch immer ein Tabuthema. Dabei ist die häufigste Krankheit, die Depression, sogar eine sogenannte Volkskrankheit, an der Schätzungen zufolge allein in Deutschland etwa vier Millionen Menschen leiden sollen. Aber kaum jemand wagt darüber zu sprechen – aus Scham (wer will schon über sich erzählen ,“nicht ganz richtig im Kopf“ zu sein, die Kontrolle über das eigene Leben und Empfinden verloren zu haben, Schwäche zeigen), aus Angst vor Ausgrenzung (was werden bloß die anderen sagen) und vor Verlust des Arbeitsplatzes.

Eine Depression kann jeden treffen, ob nun ängstlich, schüchtern, selbstbewusst oder Rampensau, junge Menschen und alte, Frauen und Männer, Ärztinnen und Lehrer, Hilfsarbeiter ohne Schulabschluss oder Hochschulprofessorinnen. Für mich besonders erschreckend: bereits Kindergartenkinder können an Depressionen erkranken, die sich freilich anders zeigt als das Leiden eines Erwachsenen.

Manchmal kommt die Krankheit langsam, schleichend und auf leisen Sohlen. In anderen Fällen kommt sie mit Wucht, ohne auch nur vorher anzuklopfen.

Je früher eine Depression erkannt wird, umso besser kann sie behandelt werden. Aber aus Unwissenheit oder Scham wagen viele, weder mit Freunden, der Familie oder gar einem Arzt darüber zu sprechen und quälen sich insgeheim so lange sich die Fassade nach außen nur irgendwie aufrechterhalten lässt.

Darum müssen wir mehr über diese Krankheit sprechen. Wir müssen wissen, was Depressionen sind und wie wir sie erkennen können. Psychische Erkrankungen müssen den Ruch der Peinlichkeit verlieren und Berührungsängste zwischen Betroffenen und den anscheinend Gesunden abgebaut werden.

Die Behandlung einer Depression ist keine Gehirnwäsche, die die Betroffenen wieder als funktionierendes Rädchen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Getriebe zurechtsägt. Betroffene leiden unter ihrer Erkrankung. Eine Depression ist eine lebensgefährliche Erkrankung! Ohne Therapie droht der Suizid.

Ein „Think positive!“, ein bisschen Sport und sich Zusammenreißen kann keine Heilung bewirken, denn Depression ist nicht mit einer kurzzeitigen Verstimmung und schlechter Laune zu verwechseln. Sie erfasst den ganzen Körper und viele Kranke erkennen sich in ihrem depressiven Wesen überhaupt nicht wieder. Ich für meinen Teil habe manchmal das Gefühl, mein krankes und mein „gesundes“ Ich seien zwei vollkommen verschiedene Persönlichkeiten.

Depressive Menschen haben nicht versagt. Depressive Menschen sind nicht faul oder einfach zu schwach, um sich zusammenzureißen. Sie können es nicht. Oft machen sie sich selbst deshalb die meisten Vorwürfe, brauchen nicht auch noch die misstrauischen Blicke der anderen.

Niemand muss sich dafür schämen, sich behandeln zu lassen. Mit einem gebrochenen Bein geht man umstandslos zum Arzt (nein, man wird gefahren!), zeigt möglicherweise später stolz den Gips, lässt ihn bemalen und fotografieren, erzählt vielleicht Heldengeschichten über den Unfall oder wie sehr die Haut unter dem Verband juckte und alle nicken verständnisvoll und klopfen dem Gebeutelten anerkennend auf die Schulter.

Kaum einer aber prahlt mit seinen Besuchen bei Psychiater*in und Psychotherapeut*in. Warum fürchten sich Menschen mit einer schmerzenden Seele noch immer, eine Psychiaterin oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen?

Vielleicht liegt das daran, dass psychisches Leid so wenig erfahrbar, greifbar und anderen vermittelbar ist. Von einem gebrochenen Bein haben wir alle eine konkrete Vorstellung – Knochen – Bruch – Röntgenbild – Gips. Das sehen wir alle vor uns, egal ob wir selber schon einmal solch einen Verband tragen mussten oder nicht. Was ist eine gebrochene Seele? Wie fühlt sich das an? Wenn in einem drin ein Monster sitzt, oder der große schwarze Hund einen auf Schritt und Tritt verfolgt oder die schwarze Hand nach dem Herzen greift? Wie fühlt es sich an, nicht mehr Herr oder Herrin seiner selbst zu sein? Die eigenen Gedanken und das Tun nicht kontrollieren zu können?  Diese Leere, diese große Leere, das dunkle schwarze Loch. Dieses plötzliche Gefühl, dass alles sinnlos ist, alles hoffnungslos und verloren, in dem alles je erlebte Glück erdrosselt wird im dichten schweren Nebel. Das macht Angst, oder?

Wie dem auch sei – ich möchte mich mit meiner Krankheit nicht (mehr) verstecken. Ich habe Depressionen und ich habe eine soziale Angststörung. Ich möchte kein Mitleid und ich brauche kein Mitleid, keine gesenkten Köpfe und gedämpften Stimmen. Aber ich möchte nicht lügen müssen, wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, wie ich lebe und was ich mache, denn das alles wird – noch und hoffentlich nicht für immer – zu einem großen Teil von dieser Krankheit bestimmt. Ich möchte über mich und mein Leben reden können. Über mein Seelenleben.

Seelenlebenreden.