S-Bahn-Skizzen (53) – ALLTAG (4)

 

 

Gewissermaßen gehören auch meine S-Bahn-Skizzen zum Thema “Alltag”. Daher möchte ich heute einige neuere Skizzen im Rahmen von Ullis Alltagsprojekt zeigen.

Für mich ist das Fahren mit der S- und U-Bahn inzwischen auch zu einer (fast) alltäglichen Angelegenheit geworden. Früher fuhr ich Rad, bei Wind und Wetter, Schnee und Regen, Hitze und Frost. Die Umstände haben sich geändert, nun gut, jetzt ist eben vieles anders.
Trotz allen Unmuts über Zugausfälle, Sperrungen von Bahnhöfen, Ausgängen und Treppen, Pendelverkehr, Schienenersatzverkehr, Verspätungen und überfüllte Bahnen – – – zornige Kritik an der BVG und spöttische Häme gegen die S-Bahn,  scheint ja die typische Berliner*in auszumachen. Ich bin jedenfalls sehr darüber froh, dass ich zwei gesunde Beine habe, nicht auf Aufzüge angewiesen bin und notfalls auch eine oder zwei Stationen zu Fuß gehen kann – – -, fahre ich inzwischen ganz gerne Bahn. Auch deshalb, weil ich das Glück habe, selten im dichtesten Berufsverkehr unterwegs sein zu müssen. Vergangene Woche musste ich ein paar Tage hintereinander abends in der Ringbahn unterwegs sein und durfte mit vielen Menschen Rücken an Bauch an Schulter stehen und die warme frisch ausgeatmete Luft der Ringsum-Menschen atmen. Ich bin froh, dass diese Unbequemlichkeiten nicht Teil meiner Alletage sind.
Zuweilen nutze ich die Bahnfahrten – sofern sie zur verkehrsberuhigten Zeit erfolgen – um mich zu entspannen, die Augen zu schließen, an nichts zu denken. Immer öfter erlaube ich mir diese Augenblicke des Nichtstuns und merke, wie gut mir das tut. Ich versuche mir diese  angeblich(!) vollkommen nutzlose, sinnfrei und unproduktiv verbrachte Zeit zu gönnen. Seltener schaue ich aufs Handy – inzwischen auf Rang 1 der beliebtesten Zeitvertreibe der BBs (Berliner Bahninsass*innen). Aber ich gebe zu: manchmal gucke auch ich unterwegs bei WordPress nach und verschmelze mit diesem kleinen universell-universalen Alltagsherrscher.
Manchmal jedoch versetze ich mich in die Rolle der Beobachtenden der Außenwelt, nehme meine Umgebung bewusst wahr, sehe die Menschen, beobachte sie, ihre Haltung und Bewegungen. Ich bewundere Falten und Furchen in den Gesichtern – für mich Zeichen der Schönheit, des Lebens. Ich greife zum Skizzenbuch und zeichne Gesichter, Menschen, die sich mitten in ihrem Alltag befinden, so verschieden der auch aussehen mag. Egal wie arm oder reich, mächtig oder abhängig, glücklich oder unglücklich, kulturell interessiert, sportbegeistert, internetsüchtig, gelangweilt oder was auch immer: hier kommen Menschen auf engstem Raum zusammen. Nein, in der Regel reden sie nicht miteinander, sehen einander nicht einmal an. Aber dennoch teilen sie hier unten in der U-Bahn oder oben in der S-Bahn eine kleine gemeinsame Welt und ich habe hier einen neuen Blick auf die Stadt bekommen, wie ich sie als Fahrradfahrerin noch nicht kannte.

Die Menschen, die ich hier sehe und zeichne, setzen sich nicht extra in Position, halten nicht still, oder steigen aus bevor ich die Zeichnung beendet habe. Dann beende ich die Zeichnung nach Gedächtnis und/oder Stimmung. Das ist etwas ganz anderes als das Zeichnen eines Modells im Atelier.
Manchmal fürchte ich, dass sich Menschen durch mein Zeichnen bedrängt fühlen könnten, dass ich gewissermaßen ihre persönliche Grenze übertrete. Aber ich bemühe mich, niemanden anzustarren und zu verunsichern, niemanden vorzuführen oder bloßzustellen und meist reagieren die Gezeichneten, falls sie mich bemerken, oder die Umstehenden, positiv.

 

Autor: Ines Udelnow

Portraitzeichnungen, Zeichnungen aus der Natur und Naturfotografie

10 thoughts

  1. Faszinierend wie du darüber schreibst, dass sich dir durch den Wechsel vom Fahrrad in die S-Bahn ein neuer Kosmos erschlossen hat. Mir gefällt sehr, wie du über die dich beim S-Bahn-Fahren begleitenden Menschen schreibst; sie nicht als lästiges „Übel“ wahrnimmst, wie es häufig dem Gejammer derer entspricht, die auf die Öffentlichen angewiesen sind. Ich persönlich liebe das Radfahren zu sehr, als dass ich im Alltag auf die Bahn umsteigen wollte, obgleich es mir noch nicht gelungen ist, die am Verkehr teilnehmenden Menschen radelnd zu skizzieren ;-) Fahre ich ausnahmsweise doch mal mit der (Fern)Bahn, ist auch bei mir stets das Skizzenbuch gezückt. In Ermangelung dieser Gelegenheiten bin ich auf Instagram ausgewichen, da gibt’s Menschen zuhauf, die freilich alle stillhalten, was die Brisanz rausnimmt, und die Lebendigkeit beim Erfassen einer Person im Raum, so wie es deine Skizzen so schön wiedergeben! Viele Grüße!

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    1. Eine Skizze vom Rad aus, das wäre doch mal was *grins*
      Aber ich erinnere mich, dass Du mal „fliegende“ Bilder vom Rad aus mit dem Fotoapparat festgehalten hast.
      Übrigens finde ich auch Deine Instagram-Skizzen sehr lebendig.
      Mit herzlichem Gruß
      Agnes

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      1. Stimmt, die Tiergartenfotos, aber das war halsbrecherisch, da will ich mein Glück nicht überstrapazieren. Schön zu hören, dass die Instagram-Skizzen auf dich lebendig wirken, danke! Grüße!

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  2. Hallo Agnes, 100pro stimme ich mit dir überein, dass Berufsverkehr mehr als ätzend ist – ganz selten erwische ich ihn auch mal. Und ich bekomme bestimmt noch viel eher einen Sitzplatz als du. Fahre ich nur kurz, dann lehne ich ihn ab, wenn er mir angeboten wird.
    Und nach wie vor beobachte ich, dass es eher Jugendliche mit Migrationshintergrund sind, die mir einen Platz anbieten, als deutsche Schüler und Jugendliche – dreist, wenn sie auf den Plätzen mit den blauen Kreisen sitzen, wo Männer mit Stock abgebildet sind.
    Fahre ich lange, dann bitte ich um einen solchen Platz – mit seeeeehr unterschiedlichen Reaktionen.
    Lieben Gruß

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    1. Liebe Clara, leider ist es nicht immer eine Selbstverständlichkeit aufzustehen. Ich würde in dieser Hinsicht damals sehr klar erzogen, merkte aber schon beim Umzug nach Berlin – da war es noch die Hauptstadt der DDR – dass hier die mir eingebläuten Regeln der Höflichkeit auch damals schon nicht unbedingt galten. Vielleicht hat das etwas mit der Größe der Stadt und der damit verbundenen größeren Anonymität zu tun. Wer weiß.
      Aber es gibt immer noch schöne Erlebnisse, wenn jene mit den jüngeren Beinen den Älteren Platz machen; und manchmal ein überraschtes, aber auch glückliches Lächeln gezeigt wird.
      Liebe Grüße
      Agnes

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      1. Auf einem „normalen Platz“ würde ich es schon gar nicht mehr erwarten oder erbitten. Nur die Plätze mit Kreuz oder anderen Symbolen sind für ältere oder behinderte Leute gedacht.
        Sogar ich bin schon für Mütter oder Väter mit Kind auf dem Arm, für Hochschwangere oder für junge Leute mit zwei Unterarmstützen aufgestanden – aber Berliner Schüler gucken so intensiv auf ihre Handys, dass ich sie richtig deutlich anspreche.

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  3. Ich staune, was für detaillierte Skizzen in den flüchtigen Momenten während der U-Bahnfahrt möglich sind. Chapeau. Bin da selber noch hoffnungslos überfordert und schreibe lieber Worte mein Büchlein xD Lieben Gruß, Jo

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  4. Liebe Agnes,
    Ich erinnere mich gut an unzählige Fahrten, hauptsächlich mit der U-Bahn, aber ich bin lieber Fahrrad gefahren. In Stoßzeiten konnte es mir schnell zu eng werden.Waren die Bahnen leerer habe auch ich mir gerne die Mitfahrenden angeschaut, Highlights waren, wenn es zu einem Lächeln oder gar zu einem Gespräch kam … S- und U-Bahnen sind schon sehr spezielle Menschenorte.
    Ich danke dir für deinen Beitrag, der so viele Erinnerungen hochspült. Deine S-Bahn-Skizzen mag ich gerne anschauen. Gerade dachte ich, dass es doch auch noch spannend sein kann, sie einmal alle zusammen in untereinander liegenden Reihen darzustellen, wie du es am Anfang des Beitrags gemacht hast.
    Liebe Grüße
    Ulli

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